"SO MACHEN ES ALLES HIER"

14. November 2013

 

 Rechts drängt ein Polizei-Pickup, links ein Toyota Corrola, von vorne fährt ein LKW direkt auf uns zu. Dazwischen steht ein Verkehrspolizist und fuchtelt mit den Armen. "Das ist ja wie im Botschaftsviertel von Kabul", sagt mein Übersetzer. "Normalerweise haben wir das hier nicht.”

 

Wir sind in Faisabad, der Hauptstadt von Badachschan. Die Provinz im Norden Afghanistans ist bekannt für sanfte, golfplatzähnliche Hügel, schroffes Gebirge, guten Honig, friedfertige Menschen, Drogenhandel und Schmugglerwege ins Ausland. Faisabad ist eine kleine Stadt und für gewöhnlich eine sehr ruhige.

 

Nicht an diesem Nachmittag: Vor dem Palast des Gouverneurs, nicht weit von dem fuchtelnden Verkehrspolizisten entfernt, demonstrieren etwa 200 Leute und werfen Steine auf das Gebäude. Sie sind der Grund für das Chaos auf der Straße. Und irgendwie ist "Chaos auf der Straße" auch der Grund, warum die Leute wütend sind.

 

Am Abend zuvor war ein mächtiger Mann mit großem Konvoi durch die Stadt gefahren, von einer Hochzeit zu seinem Haus. In einer engen Gasse kam ihm ein Auto entgegen und dessen Fahrer, ein Ingenieur, wollte der Kolonne nicht ausweichen. Der Mächtige stieg aus, der Ingenieur stieg aus und die beiden stritten sich um die Vorfahrt. Nach ein paar Minuten ging der Mächtige zu seinem Auto, holte von der Rückbank eine Kalaschnikow und erschoss den Ingenieur. So erzählen es die Leute.

 

Der mächtige Mann war der Sohn von Nazir Mohammad, Faisabads Bürgermeister. Er kam davon. Deshalb sind die Leute so zornig.

 

Irgendwann verspricht ihnen der Gouverneur: Wir werden den Mann verhaften. Morgen. “Das ist unmöglich”, sagt mir mein Übersetzer. “Das ist der Sohn des Bürgermeisters."

 

Nazir Mohammad verdient Geld mit Waffenhandel und Droggenschmuggel. Er kämpfte gegen die Russen, er kämpfte gegen die Taliban und er bekommt seit Jahren Unterstützung aus Kabul. Marschall Mohammad Fahim, ehemaliger Verteidigungsminister und jetziger Vizepräsident, der von der afghanischen Menschenrechtskommission zahlreicher Verbrechen beschuldigt wird, gilt als sein Mentor. 2010 verhalf er Nazir zu seinem Job als Bürgermeister.

 

Letzen Sommer haben dessen Leute die Bodyguards von Badachschans Polizeichef beschossen, einige Monate später verließ der die Provinz. Auf den Straßen höre ich noch mehr Geschichten, wie Nazir Mohammad sich über das Gesetz stellt, brutalere.

 

Er gehört nicht zur Taliban-Bewegung, aber gelegentlich hilft er ihr, zum Beispiel seinem Cousin Maulawi Abdul Reshad. Die Bundeswehr, die von 2004 bis 2012 in Faizabad stationiert war, wusste davon. Sie arbeitete trotzdem mit Nazir zusammen.

 

Artur Schwitalla war sieben Monate lang Kommandeur des Camps und hat über diese Zeit ein Buch geschrieben, in dem auch Nazir vorkommt. Um Anonymität zu wahren, kürzt Schwitalla dessen Namen ab: “SM” oder "NM" für Schah Mohammad oder Nazir Mohammad. Schwitalla schreibt, SM sei einer der ersten gewesen, die er kennengelernt habe, der Wichtigste. Damals war SM noch nicht Bürgermeister, sondern “im Umkreis von 100 Kilometern der größte Kriminelle”. Schwitallas Vorgänger habe ihm “als Dank für die gute Zusammenarbeit” eine Flasche Wodka geschenkt und er selbst – am 18. Jahrestags des sowjetischen Abzugs – 20 Dosen Bier. Immer wieder hätten Bundeswehr-Ärzte Nazir und dessen Leute behandelt.

 

Er schreibt, SM habe "seit langer Zeit auf einer Liste von Hochwertzielen" gestanden, Spezialkräfte hätten ihn "im Bedarfsfall" ausschalten können. Schwitalla riet davon ab, er wollte die Stabilität in Badachschan nicht gefährden. Stattdessen hatte die Bundeswehr 80 von Nazirs Männern als Wachen für das Feldlager engagiert. So war dieser stets über die Bewegungen der Soldaten informiert. Gegenüber Journalisten beschrieb er sie mehrmals als freundlich, aber ängstlich.

 

Andere Armeen hätten versucht, die Machtverhältnisse in ihrem Verantwortungsgebiet langfristig zu beeinflussen, erklärt der Wissenschaftler Philipp Münch in einer am Dienstag veröffentlichten Studie für das Afghanistan Analysts Network. Die Bundeswehr hingegen habe mit Leuten wie Nazir nur zusammengearbeitet, “wenn man glaubte, dass es dazu führen könnte, Angriffe aufs deutsche Lager zu verhindern.” Als das Lager von 2005 bis 2007 mehrfach mit Raketen und RPGs beschossen wurde, seien die Deutschen davon ausgegangen, dass Nazir die Angriffe beauftragt hatte, um mehr Wachleute unter Vertrag zu bringen.

 

“So machen es alle hier: Wer heute mein Partner ist, ist morgen vielleicht mein Gegner. Aber nur so erzielt man hier Wirkung!", beendet Artur Schwitalla das Kapitel über SM. Und er schreibt: “Um die eigene Truppe zu schützen, war mir jedes Mittel recht.”

 

Einen Tag nach der Demonstration hat die Polizei vier Checkpoints in Faisabad errichtet. Nazirs Sohn ist geflohen. Der Gouverneur sagt den Leuten: Gebt mir noch drei Tage, dann werde ich ihn verhaften. Ein Geheimdienstler sagt mir: Bei der nächsten Demonstration planen die Aufständischen einen Anschlag.

 

Am Abend des dritten Tags händigt Nazir seinen Sohn der Polizei aus. Er wird verhaftet. Kommandeur Schwitalla lag falsch: Nicht alle hier machen es so wie er.