WAS MAN SIEHT UND WAS MAN NICHT SIEHT

Kabul, 4. Dezember 2014

 

Jedes Mal, wenn ich in Kabul von einem Ort zu einem anderen gehe, entdecke ich etwas Neues. Das liegt daran, dass Kabul eine riesige Stadt mit vier bis fünf Millionen Einwohnern ist. Und es liegt daran, dass ich ziemlich oft Taxi fahre. Manchmal, weil mir die Viertel zu gefährlich vorkommen. Manchmal, weil ich faul bin.

 

Neulich habe ich dabei Shar e Babur entdeckt. Wir hatten die Nationalgalerie besucht. Sie war wegen Renovierung geschlossen, aber einer der Mitarbeiter führte uns durchs Haus und zeigte uns eine handvoll verbliebener Gemälde. Beim Rausgehen kam uns ein taubstummer Künstler entgegen, der Grimassen schnitt und Witze machte, obwohl er nicht sprechen konnte. Dann holte er ein paar Bleistiftzeichnungen und breitete sie vor uns auf dem Boden aus. Die Bilder waren schön, klar wie Fotografien, nur etwas sanfter.

 

Wir entschieden, zu Fuß nach Hause zu gehen und dabei entdeckten wir Shar e Babur, direkt gegenüber der Nationalgalerie: zweistöckigen Häuserreihen in U-Form: unten verkaufen Händler Teppiche, oben Bücher. Und in der Mitte des Innenhofs steht eine kleine Imbissbude: Nudelsuppe, Brot und Cola. Ich war bestimmt schon vier dutzend Mal an Shar e Babur vorbeigefahren, aber gesehen hatte ich den Innenhof noch nie. Vielleicht hatte ich mich gerade mit dem Fahrer unterhalten. Oder E-Mails auf dem Handy beantwortet. Oder ich hing in Gedanken einem Gespräch der Tage zuvor nach.

 

Teppiche interessieren mich nicht besonders, also ging ich hoch zu den Büchern, in eines der größeren Geschäfte. Die Bücher waren alle in persischer Schrift, die ich nicht lesen kann. Trotzdem stöberten wir ein bisschen herum. Auf einem Stapel hinter einer großen Säule fand ich ein Buch, das ich erkannte, am Cover: Der Kleine Prinz. Ich nahm eines für mich und fünf als Geschenke für Freunde und ging zur Kasse. Während der Verkäufer die Bücher einpackte, erzählte ich ihm von dem Mann, der den kleinen Prinz geschrieben hatte. Besser gesagt, von dessen Tod. Dass er im Zweiten Weltkrieg bei einem Aufklärungsflug abgeschossen wurde und dass der deutsche Pilot, als er Jahrzehnte später erfuhr, wen er abgeschossen hatte, sagte, er bereue, was er getan habe. Antoine de Saint-Exupéry sei so ein guter Schriftsteller gewesen.

 

Der Buchhändler war offenbar nicht besonders beeindruckt von der Geschichte - er sagte kein Wort dazu. Stattdessen fragte er: „Kennst du Annemarie Schimmel?“ Ich schüttelte den Kopf. „Bist du sicher? Sie kommt aus Deutschland, eine Wissenschaftlerin. A-nne-ma-rie-Schimmel“, sagte er noch einmal. „Nein, tut mir leid, wirklich nicht.“ Er ging zu einem Regal hinter der Kasse und holte ein Buch raus. „Das ist von ihr“, sagte er, „sie war ein toller Mensch!“ „War sie mal hier?“, fragte ich. „Nein! Bist du verrückt? Aber sie hat gute Sachen gemacht, sie kannte Afghanistan sehr gut.“ Dann fragte der Buchhändler nach unsern Namen und ohne ein Wort zu sagen, holte er ein weißes Blatt Papier, ein Tintenfass und einen Füller und begann, „Niklas Ronja“ zu kalligraphieren. Er erklärte uns, welcher Buchstabe welcher war und wir verabschiedeten uns.

 

Zuhause postete ich ein Foto des Kleinen Prinzen-Buch auf Twitter und googelte ich „Annemarie Schimmel“. Mit 15 Jahren lernte sie Arabisch, mit 16 machte sie ihr Abitur, nach ihrem Studium promovierte sie in Berlin. Während des Kriegs arbeitete sie im Auswärtigen Amt als Übersetzerin. Später lehrte sie in Harvard. Sie schrieb dutzende Bücher und gewann zahlreiche Preise. In Lahore in Pakistan wurde eine Straße nach ihr benannt. Mit ihrer Arbeit, sagte sie, wolle sie für ein besseres Verständis des Islams im Westen beitragen.

 

Wochen später, wir sind mit dem Auto unterwegs, sehen wir eine Bekannte auf der Straße. Wir halten an und stellen fest, dass wir zu gemeinsamen Freunden unterwegs sind. Im Auto erzählt uns die Bekannte, dass sie am übernächsten Tag heiratet. Die Hochzeit ist von ihrer Familie organisiert, sie selbst hat monatelang versucht, die Entscheidung zu bekämpfen. Die Familie ihres zukünftigen Mannes ist konservativ. Nach der Hochzeit wird sie nicht mehr in die Schule gehen und männliche Bekannte nicht mehr sehen dürfen.

 

Sie hat sich mit unseren gemeinsamen Freunden verabredet, um ihnen die Hochzeitseinladung zu bringen – und sich zu verabschieden. Die Freunde sind männlich und Männer und Frauen feiern getrennt. Es ist das letzte Mal, dass sie sich sehen werden. Bei den Freunden angekommen, reden wir nicht viel. Es fühlt sich absurd an und unwirklich, dass es nun das letzte Mal sein soll, dass wir uns sehen. Wir machen ein letztes Foto. Wir weinen. Dann verabschiedet sich die Bekannte. Ein paar Stunden, nachdem sie weg ist, denke ich an den Kleinen Prinzen. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, steht dort. Ich frage unsere Freunde, ob sie das Buch mit zur Hochzeit nehmen und versuchen können, es irgendwie auf die Seite der Frauen, zu unserer Bekannten bringen zu lassen. „Wir versuchen es“, sagen sie. Dann schweigen wir. Es stimmt schon: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Aber in manchen Situationen hilft einem das auch nicht viel.