DIE SCHAFE WISSEN NICHT, WAS KOMMT

17. Oktober 2013

 

Manche Geräusche in Kabul irritieren mich - vor allem, wenn sie mich aufwecken.

 

Am ersten Tag war es Vogelgezwitscher. In der zwölften Nacht war es das Flattern einer Blackhawk, die tiefer über unser Hausdach flog als ich es gewohnt bin. Diese Woche ist es lautes Blöken.

 

Ich reibe mir die Augen und schiebe den Vorhang zur Seite. In unserm Garten grasen vier Schafe. Zwei weiß, zwei schwarz. Alle ziemlich fett.

 

Ich mag Tiere. Nicht auf die Art, dass ich sie nicht essen würde. Eher auf die Art, dass ich sie kurz mal streicheln will, wenn ich eins sehe. Ich gehe raus und frage den Gärtner, was Schaf auf Dari heißt. "Gospan", sagt er. Dann sagt er noch mehr, viel mehr, aber ich verstehe nichts davon. Als der Gärtner das bemerkt, schneidet er mit seiner rechten Hand mit einem Ruck die Luft vor seiner Kehle durch. "Farda" sagt er dann. Morgen.

 

Es ist ein Tag vor Eid-i- Kurban. Opferfest. Drei Tage lang feiern die Leute am Ende des Pilgermonats Hadsch den Propheten Abraham. Er wird für vieles verehrt, aber vor allem dafür, dass er bereit war, seinen Sohn Gott zu opfern. Gott hat es sich nochmal anders überlegt und Abraham stattdessen ein Lamm schlachten lassen. Aber der Ruhm bleibt.

 

Vier Männer, die unser Haus bewachen. Vier Schafe.

 

Tag 1 des Schlachtfestes: Jeder Mann, der es sich leisten kann, soll eine Ziege, eine Kuh, einen Büffel, ein Kamel oder eben ein Schaf schlachten. "Er muss es mit seinen eigenen Händen tun und dabei Gottes Namen aussprechen", sagt ein Gelehrter, der versprochen hat, mir bei einer Tasse Tee den Brauch zu erklären. "Er muss das Tier selbst ausnehmen und das Fleisch zerteilen." Ein Drittel muss er den Armen bringen, ein Drittel den Verwandten und Freunden geben, die über die Feiertage zu Besuch kommen, ein Drittel darf er behalten. Als Geste dafür, das man im Leben manchmal etwas opfern muss, um auf dem richtigen Weg zu bleiben. "Und es bringt Arme und Reiche näher zusammen", sagt der Gelehrte. "Ein Millionär muss sich genauso die Hände schmutzig machen wie alle anderen. Für viele Leute ist es das einzige Mal im Jahr, dass sie Fleisch bekommen. Proteine."

Tag 2, Tag 3: Frauen schminken und stylen sich, wer es sich irgendwie leisten kann, hat neue Kleider gekauft. Rausgeputzt startet der Besuchs-Marathon zu Freunden und Verwandten. Es gibt Reis, Fleisch, Gemüse, Brot. Dazwischen trockene Früchte, Obst, Süßigkeiten, Nüsse, Tee. Einen Tag lang ist man Gast, am andern Gastgeber. »Das ist wie bei einem EU-Gipfel«, sagt der Gelehrte. »Man sorgt dafür, dass man sich wenigstens einmal im Jahr trifft und redet, Neuigkeiten austauscht, Ideen. Damit die Probleme nicht zu groß werden.«

»Das ist einfach ein Familienfest«, sagt ein guter Freund, bevor er für zwei Tage nach Dschalalabad verreist, zu seinen beiden Schwestern. »Du verbringst drei Tage mit den Leuten, die du liebst.«

Die meisten Westler nehmen sich Urlaub über Eid. Sie fliegen nach Dubai, Singapur, Goa. Gehen an den Strand, feiern, shoppen. Warum in Kabul bleiben, wenn es keine Arbeit gibt?

»Fährst du weg?«, frage ich einen Freund. Er ist um die 50, hat während der Besatzung der Russen deutsch gelernt. »Wir wollen zu unserem Haus«, sagt er. Es liegt in Logar, einer Provinz, keine 50 Kilometer von Kabul entfernt. »Aber über Nacht ist’s mir zu gefährlich. Es gibt ein paar Taliban dort.« Du besitzt ein Haus und kannst nicht drinwohnen. Du bezahlst Leute, damit sie es in Schuss halten und kannst nichtmal über Nacht bleiben. Der Freund zuckt mit den Schultern. »Ich will es trotzdem behalten, für meine Kinder. Wer weiß schon, was kommt.«

Ich sitze im Garten und schaue den Schafen bei ihrem allerletzten Tag zu. Glücklicherweise wissen sie nicht, was kommt.