DAS PERFEKTE DORF

Kabul, 12. Juli 2014

 

Konflikt-Training in Kabul. Eine Gruppe junger Männer und Frauen sitzt auf dem Boden im Kreis. In der Mitte liegt ein DIN-A-1 Papier, zwei Packungen Buntstifte. Die jungen Leute sollen ihr Traumdorf zeichnen. Sie sitzen schon seit zwanzig Minuten hier, das Papier ist leer.

 

Ein Mann mit fein rasiertem Bart und Brille notiert auf einem Block: Solaranlage. Wasserkraftwerk. Wasserspeicher. Park. Krankenhaus. Schule. Moschee. Häuser mit Garten. Saubere Straßen. „Fehlt noch was?“, fragt er und liest die Liste noch einmal vor. Alle sind einverstanden. Er liest die Liste noch einmal vor, dann beschließt man, mit dem Zeichnen anzufangen. Eine Frau zeichnet ein Quadrat und schreibt „Wasserkraftwerk“ hinein. Daneben ein weiteres: „Solaranlage“, und: „Krankenhaus“. Man berät sich. Solaranlage und Krankenhaus sind etwas zu groß geraten. Man radiert, zieht mit der Buntstiftpackung neue Striche, beäugt das Ergebnis – und ist zufrieden. Der Mann mit dem Block macht einen Haken hinter jedes Wort auf seiner Liste, das auf Papier zu einem Gebäude geworden sind.

 

Ein anderer junger Mann kommt ins Zimmer. „Ich arbeite für die Regierung“, sagt er. „Wenn ihr irgendetwas braucht für euer Dorf, gebt Bescheid.“ Er ist ein guter Freund der anderen und kann sich das Grinsen nicht verkneifen. Als er den Raum verlässt, blicken die andern ihm irritiert hinterher. Dann werden neue Striche gezogen: das Krankenhaus. Bevor der Mann mit dem Block seinen Haken setzen kann, kommt der Mann von der Regierung zurück. Er kniet sich vor das Blatt und sagt: „Ihr habt gar keine Genehmigung, eine Dorf zu bauen. Das geht so nicht!“ Er zerreißt das Papier. Und geht.

 

Die andern schauen ihm hinterher, wütend diesmal. Die Frau, die gezeichnet hat, lacht einmal laut auf. „Ich hatte richtig Angst!“, sagt sie. Dann nimmt sie ein neues Papier vom Stapel und zieht neue Striche. Das Wasserkraftwerk. Der Mann mit dem Block blickt etwas verwirrt auf seine Liste. „Solaranlage“, sagt er dann.

 

Wieder kommt der Mann von der Regierung ins Zimmer und setzt sich vor die Gruppe. „Hey!“, sagt ihm die Frau, die zeichnet, „zeig deinen Ausweis! Warum sollen wir dir überhaupt glauben, dass du von der Regierung bist?“ Der Mann schweigt. „Hau ab!“, ruft die Frau, „lass uns in Ruhe.“ Der Mann schweigt immer noch, reißt sich ein Stück vom Papier ab, ein Stück vom Wasserkraftwerk, und geht wieder. Die Dorfleute sind aufgebracht. Sie beschließen, das Nachbardorf – eine zweite Gruppe junger Leute, die im Zimmer nebenan ihre Traumsiedlung aufmalen sollen, um Rat zu fragen. Dem Nachbardorf ist es nicht besser ergangen. Mit einem angerissenen Papier, auf dem Bäume, ein Sonne, Häuser, ein Fluss gemalt sind, kommen sie ins Zimmer. Man beschließt, sich zusammenzutun. Als die Männer von der Regierung – sie sind jetzt auch zu zweit – das nächste Mal kommen, versperren die Dorfmänner ihnen den Weg. „Was wollt ihr hier?“, fragen sie. Die Männer von der Regierung geben keine Antwort und versuchen stattdessen, trotz Absperrung ins Zimmer zu gelangen. Währenddessen zeichnen die anderen weiter. „Bietet den Leuten von der Regierung Tee an“, ruft der Mann mit dem Block den Männern, die das Zimmer sichern, zu, „verwickelt sie in ein Gespräch!“ Aber es ist Fastenzeit. Von 3 Uhr morgens bis 7 Uhr abends darf weder getrunken noch gegessen werden. Einer der Dorfmänner geht jede Woche ins Fitness-Studio zum Gewichte heben. Er führt die Regierungsmänner ab. Übung beendet.

 

Die jungen Leute setzen sich zusammen und jeder erzählt, wie es ihm ergangen ist. „Beim ersten Mal haben wir uns noch viel Mühe mit dem Zeichnen gegeben“, erzählt eine Frau, „danach wurde es immer weniger. Wir wussten ja nie, wie lange es hält.“ „Das hab ich jetzt verstanden“, sagt eine andere, „dass man immer weiter machen muss. Egal, wie schwierig etwas ist, irgendwann hat man Erfolg.“ Ein Mann sagt: „Ich hab gemerkt, dass es hilft, wenn man sich zusammentut und einen Plan schmiedet.“ Ein anderer: „Ich frage mich, warum die Regierung so viel bestimmen kann. Wieso dürfen wir in unseren Dörfern nicht einfach machen, was wir wollen?“ Schließlich ist der Mann von der Regierung an der Reihe: „Beim ersten Mal hatte ich Angst“, sagt er. „Ich wusste ja nicht, wie sie reagieren. Als ich dann gemerkt hab, dass es klappt, dass ich das Papier einfach zerreißen kann und mir nichts passiert, hatte ich keine Angst mehr.“

 

Die Spielleiterin, eine amerikanische Friedensaktivistin, die gerade für ein paar Wochen in Kabul zu Besuch ist, nickt und lacht abwechselnd. Am Ende sagt sie: „Ich hab diese Übung schon in so vielen Ländern gemacht und immer passiert etwas unterschiedliches. Aber, dass sich die beiden Dörfer zusammentun – das gab's noch nie.“

 

Auf dem Heimweg, im Taxi, fahren wir an einem Unfall vorbei, Männer stehen auf der Straße und diskutieren, gerade kommt ein Polizeiwagen dort an. „In anderen Ländern“, sagt der Taxifahrer, „hilft die Polizei den Leuten. Hier kommen sie nur, um Geld zu verlangen. Sie sind der Feind des Volkes.“ Er schweigt ein paar Sekunden. Dann fragt er: „Wie ist das bei euch, in Deutschland?“